Wirth, Jan V (2021) Lob und Wert der Exklusion. Auf: https://www.systemisch-arbeiten.info/index.php/forschen/theorie/neue-beitraege/153-lob-und-wert-der-exklusion-ueber-ausschliessen.pdf. Zugriff XX.XX.20XX
Eine Anfrage über mehrere Suchportale ergibt, dass die Begriffe „Inklusion“ und „Exklusion“, die so viel bedeuten wie Berücksichtigung und Nichtberücksichtigung in und durch Kommunikation, in sehr unterschiedlicher Anzahl aufgerufen werden. Ungefähr beträgt das Verhältnis zugunsten von Inklusion 3:1. Drei Überlegungen, die helfen, dieses Missverhältnis als veränderungswürdig zu begreifen:
Jedermann* will seine Rechte auf Inklusion kommunizieren.
In der bürgerlichen Gesellschaft will jedermann Mitbestimmungsrechte adressieren, um ja nicht übersehen zu werden, etwa bei Entscheidungen von gesellschaftlicher Tragweite. Die BürgerInnen zieht es aus guten Gründen aufs Pflaster. Ein Schweinezuchtbetrieb unweit der Dorfmitte, ein Mobilfunkmast in der Nähe einer Kindertagesstätte oder die - zu spät kommende - Aufklärung von Missbrauchs-Skandalen in der katholischen Kirche.
Mitbestimmung ist Trumpf. Wir sind das Volk. Wir haben Webseiten, Feedlogs und Blogs, nicht zu vergessen die sozialen Netzwerke, die wir in Echtzeit in schierer Masse überfluten könnten. Aber wer sind die anderen, die an den Hebeln der Macht? Gerade in diesen Zeiten der Fortsetzung der Demokratie mit anderen Mitteln, um der Verbreitung der verschiedenen Virusvarianten Einheit zu gebieten, wird übersehen, dass die westliche Gesellschaft nicht mit einem kompakten Ganzen, etwa einem Stammesverband, zu verwechseln ist.
Das sogenannte Recht auf Inklusion in die Gesellschaft ist soziologisch zu übersetzen mit einem Recht auf die vorübergehende funktionale Beteiligung an verschiedenen Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik und Medien etwa. Funktional wohl gemerkt im Sinne der Organisationen, die Inklusion und Exklusion in eigener Logik exekutieren. Ob Leute als arbeitsfähige ArbeitnehmerInnen, als vertrauenswürdige WählerInnen, als sozial integrierte BürgerInnen, als kognitiv erreichbare RezipientInnen, zahlungskräftige KonsumentInnen oder gar als Menschen, was immer der Begriff bedeutet, inkludiert werden, entscheiden weder der Papst, der König oder der Kanzler und schon gar nicht das Volk. Kollektiv verbindliche Entscheidungen werden, so die soziologische Denkungsart, in der Politik getroffen - nicht auf Golfplätzen oder Yachten im Mittelmeer, wobei es lebenspraktisch bei PolitikerInnen zur Vermischung kommen kann.
Wer hofft, bei der Bewältigung der Pandemie, von der Politik gehört zu werden, übersieht das gesamte vom Kreisverband bis zum Bundeskanzleramt reichende politische Geflecht und Netzwerk von Interessen, Mandaten und Einflussbereichen. Und jeder, der einmal versucht hat in seiner Gemeinde ein politisches Ziel durchzusetzen, weiß jetzt, was gemeint ist. Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt, drittens ohne das gewollt zu haben. Inklusion in die Politik bedeutet nicht nur Entscheidungen treffen zu wollen, die nicht entschieden werden können, sonst wären es keine Entscheidungen. Es bedeutet auch, zu realisieren, dass die Rechte auf Mitbestimmung in politischen Organisationen in subtiler Weise abgestuft sind.
Mit anderen Worten: vom Wahlkampf auf dem Marktplatz bis zum politischen Entscheider mit signifikantem Einflussbereich ist es ein weiter Weg. Wohl dem, der sich dieser Knüppeltour unterwirft. Auf das Recht auf Inklusion kann sich jeder berufen. Die Parolen der Aufklärung nach Gleichheit und Brüderlichkeit verhallen aber im Alltag von Hochleistungsorganisationen, die sich wechselseitig als Exklusionsfabriken in weltweiter Konkurrenz von Flexibilität und Effizienz ausstechen. Genau das macht es notwendig, auf Inklusion möglichst lautstark zu pochen.
Wer Inklusion aber ernsthaft als Motto zur Weltverbesserung versteht, muss sich auf eine ungemütliche Zukunft einstellen. In einer solchen zukünftigen Gesellschaft gäbe es keine Nischen, keine blinden Flecke mehr, nur noch restlose Durchsichtigkeit, soziale Kontrolle und vollständige Überwachung.
Inklusion ist attraktiver als Exklusion.
Inklusion macht Spaß. Auch wer im Beruf manchmal nicht viel Freude hat, wird doch gemäß den Gesetzen des Marktes in der Monatsmitte oder am Monatsende mit der Überweisung des Gehaltsschecks pazifiziert. Die Zusammenkunft der Gläubigen am Freitag oder Sonntag, je nachdem, vermittelt das stets bedrohte Gefühl von Gemeinschaft und Zugehörigkeit. Nicht zuletzt mit 50.000 im Stadion zu trauern, wenn der Club verliert, das schafft Gesellschaft, das schafft Inklusion - oder nicht!
Inklusion lässt sich auch anders beobachten.
Inklusion ist nicht nur ein Recht, sondern eine Pflicht, die unter gedeihlichen Umständen zum Zwang ausartet. Natürlich geht es nicht darum, ob jemand sein neugeborenes Kind Eva oder Osama nennen möchte. Obwohl es ganz ohne Namen auch nicht geht. Vielmehr ist zu denken an die Arbeitspflicht, die Schulpflicht, die Pflicht nach Recht und Gesetz zu leben, wie rückständig auch immer diese noch formuliert sind. Es ist noch nicht so lange her, dass Menschen verurteilt wurden, weil sie ihre Homosexualität nicht länger verheimlichen.
Es geht nicht nur um die Pflicht, eine ordentliche Aufenthaltsgenehmigung zu haben oder im Abschiebeknast zu landen. Die Diskussion um eine eventuelle Impfpflicht zeigt auf radikale Weise, dass Inklusion bedeuten kann, sich Erwartungen zu stellen, die stufenlos von Pflicht in Zwang umschlagen, sofern sie nur radikal vereinfacht kommuniziert werden und willige Aufnahme von empathisch um das Gemeinwesen besorgten BürgerInnen findet.
Nun will dieser Beitrag nicht unterstellen, dass Inklusion an die seelenlose Unterwerfung unter abstrakte Pflichten gebunden ist. Jede Person, die in der Sozialisation mit einer hinreichenden Rollenambiguität, d.h. mit einer kritischen Distanz zur Inklusionsform, ausgestattet wurde, erwirbt einen Spielraum an Möglichkeiten, die Form der Inklusion zu unterminieren, ja zu sabotieren. In der Inklusion sich selbst zu exkludieren, das verspricht nicht nur Spaß zu machen, sondern könnte der Anfang sein, Inklusion neu zu denken.
Exklusion beobachten geht nicht.
Bertolt Brecht sagte, die im Dunkeln sieht man nicht. Brecht muss der Vater der „Dunkelziffer“ sein. Das Kennzeichen der Dunkelziffer ist, dass sie offen lassen muss, ob das Konstruierte der Phänomene wie Suizidalität, häusliche Gewalt oder schlicht Stumpfsinn mit empirisch gefundenen Maßstäben verrechnet werden kann. Im Pandemie-Zeitalter sind Straßen und Marktplätze verwaist und bis auf das nur an der Autoschlange erkennbare Drive-Inn bei McDonald‘s gibt es kaum Anzeichen, dass Städte, Dörfer und vor allem Wohnräume sozial hoch verdichtete Zonen sind.
Auf einmal sind wir alle für uns, und, wenn wir Glück haben, oder sollen wir lieber Pech sagen, mitsamt der Familie eingesperrt. Dass der Vater trinkt und ihm die Hand ausrutscht, weil sich die Kinder nicht Stunden vor dem Computer konzentrieren, sei‘s drum. Es sieht keiner. Wir sehen nicht die Alten, Schwachen, Verängstigten und Enttäuschten, die am Rand der Zivilisation in grau-funktionalen Wohneinheiten über menschenwürdige und nachhaltige Selbsttötungsmöglichkeiten sinnieren.
Die im Dunkeln sehen wir nicht deswegen nicht, weil wir sie vergessen haben. Nein.
Wir haben vergessen, in ihnen einen Funken zu entfachen, mit ihnen eine gemeinsam wertgeschätzte Vision jenseits von sozialen Pflichtkatalogen zu gestalten, die über unsere kümmerlich auf Sicherheitsmaximierung bedachte Existenz hinausreicht.
Die Hölle, so Sartre, sind die anderen. Und der Volksmund zieht zu Recht den Schluss, dass Gesellschaft nicht soweit reichen muss.
* "Jedermann" schließt aus Gründen der Lesbarkeit und Verständlichkeit sämtliche Geschlechterkonstruktionen ein.
Jan V. Wirth, Dr. Professur AKAD University Stuttgart, Exklusionsforscher, AKAD Soziale Arbeit - Wie Für Dich gemacht