Auf YouTube finden wir ein Video vom Bayerischen Rundfunk, das auf 21 Minuten über den Konstruktivismus berichtet. In diesem Video werden die verschiedenen Spielarten des Erkennens und des Konstruktivismus nicht unterschieden. Wir können unterscheiden den naiven Realismus, den Empirismus und mindestens drei verschiedene, bekannt gewordene Arten des Konstruktivismus. Um dies zu erläutern, greife ich auf ein Beispiel zurück von Weick (1995, 9) und passe es für meine zwei Aufgabenstellungen dieses Textes an.
Die erste Aufgabenstellung ist zu zeigen, dass die Rede von „dem“ Konstruktivismus zu pauschal ist, weil wertvolle Unterscheidungen, ja sogar ganze Stränge der Erkenntnistheorie-Entwicklung unterschlagen werden. Die zweite Aufgabenstellung ist es anhand eines einfachen Beispiels zu zeigen, wie das eigene Erkennen bzw. die Theorie darüber, wie wir erkennen, ganz unterschiedliche Umwelten schaffen. Jedoch sind wir nicht nur Urheber von Umwelten, sondern wir sind auch leicht - in einer etwas dramatisch klingenden Fassung – „Opfer“ dieser Konstruktionen von Umwelt.
Welche Rolle spielt die Auffassung der Leute von der Wirklichkeit bei der Schaffung von Umwelten, die sich ihnen aufdrängen? Hierzu lässt sich wie gesagt ein passendes Beispiel mithilfe von „Schiedsrichtern“ bei Weick finden und dementsprechend weiterentwickeln.
Das von mir praxistheoretisch weiter verfeinerte Beispiel lautet so:
„Es wird erzählt, dass 5 Schiedsrichter über die Frage des Pfeifens von unvorschriftsmäßig ausgeführten Schlägen uneins waren. Der erste sagt: „Ich pfeife sie, wie sie sind.“ Der zweite Schiedsrichter hält dem entgegen: „Ich pfeife sie, wie ich sie sehe.“ Der dritte Schiedsrichter wiederum meint: „Weil ich sie selbst erkenne, kann ich sie pfeifen.“ Der vierte Schiedsrichter behauptet: „Es gibt sie überhaupt erst, wenn wir sie pfeifen.“ Der fünfte Schiedsrichter äußert sich so: „Indem ich diese Verhalten unterscheide und gemäß der Regeln als „unrechtmäßig“ bezeichne, kann ich sie erwartungsgemäß pfeifen“.
Schiedsrichter 1 vertritt eine Aussage des Realismus - Schiedsrichter 2 vertritt eine Aussage des Empirismus - Schiedsrichter 3 vertritt eine Aussage des Radikalen Konstruktivismus - Schiedsrichter 4 vertritt eine Aussage des sozialen Konstruktivismus - Schiedsrichter 5 vertritt eine Aussage des systemtheoretischen Konstruktivismus.
Übertragen auf die sozialberufliche Praxis bedeutet das ganz im Sinne der postmodernen Sozialphilosophie, dass wir es mit unterschiedlichen Regeln und Sprachspielen zu tun bekommen.
Einerseits scheint es funktional hilfreich, die Wirklichkeit für eine zu halten, wie sie ist. Die Stabilität unserer Weltvorstellungen, die Gewissheit unserer Identität und unserer Leiblichkeit hängen in existenzieller Weise davon ab. Wenn wir immer wieder über eine Brücke gehen, denken wir nicht jedes Mal nach, ob sie einstürzen könnte. Solche Überlegungen würden uns einerseits kognitiv überfordern und andererseits daran hindern, unsere Bedürfnisse zeitgerecht zu befriedigen. Wer anders gesagt, dreißigmal die Tür ab schließt und wieder aufschließt, um sich zu vergewissern, ob der Herd wirklich aus ist, wird in dieser Zeit andere Bedürfnisse nicht decken können.
Andererseits ist es funktional notwendig, sich für die Informationen und Reize aus der Umwelt in irgendeiner Form empfänglich zu halten bzw. diese zu registrieren. Auch Erfahrungen werden sachlich, zeitlich und sozial irgendwie geordnet, wir können sie nicht gleichzeitig thematisieren und wir halten nicht alle Erfahrungen für gleich wichtig. Die Erfahrung der Wirklichkeit geht demnach Hand in Hand mit der Konstruktion von Wirklichkeit.
Die individuelle Produktion von Wirklichkeit im Sinne des Radikalen Konstruktivismus verweist auf den empirischen Tatbestand, dass Gedanken auf Gehirne, auf Nervensysteme angewiesen sind und diese nicht verlassen können. Immerhin handelt es sich um die eigenen Gedanken und die eigenen Gefühle, wobei wir nie so genau wissen, ob es nicht die Gedanken und Gefühle von anderen sind, die sich aufgedrängt haben - entweder durch Relevanz oder einfach durch zeitliches Andauern.
Der soziale Konstruktivismus trifft die Aussage, dass wir das, was wir für uns sind, von der Sprache, der Grammatik und den Regeln des Sprechen abhängt. Wir sind das, was wir sind, nicht weil wir denken und auch noch daran zweifeln können. Wir sind das, was wir für einander sind und voneinander halten, aufgrund von Meta-Erzählungen, Narrativen, hegemonialen Diskursen, Kommunikation, Kooperation, letztlich: Sprache.
Der systemtheoretische Konstruktivismus behauptet die Konstruktion von Wirklichkeit durch Beobachtungen, die in einem Akt unterscheiden und bezeichnen. Diese Beobachtungen können von Systemen jeder Art vorgenommen werden, soweit diese über Bezeichnungen und Zeichenvorräte verfügen. Die Kommunikation und Interaktion wird durch Erwartungen vorstrukturiert. Wenn wir als Schiedsrichter nicht eingreifen, als Sozialarbeiter nicht helfen, handeln wir nicht erwartungsgemäß und werden früher oder später vom Spiel bzw. von der Hilfekommunikation, durch die sich Soziale Arbeit auszeichnet, ausgeschlossen.
Meines Erachtens kommt es nicht darauf an, diese Paradigmen gegeneinander auszuspielen. Das kann dem Markt der Wissenschaft vorbehalten bleiben. Als Fachkräfte haben wir diese verschiedenen Auffassungen von Wirklichkeit und ihrer Konstruktion nicht nur zu akzeptieren, sondern konstruktiv zu nutzen.
Als sogenannte "Ermöglichungsprofession" (Wirth/Kleve 2019, Carl-Auer) haben wir nicht nur Möglichkeiten zu nutzen, zu vermehren und zu kombinieren, sondern auch Wirklichkeit in ihrer vermeintlichen Eindeutigkeit anzuerkennen und zu würdigen.
Unsere allgemeinen Handlungsmaximen sind (siehe auch "Von der gespaltenen zur verbundenen Lebensführung", Vandenhoeck & Ruprecht, 1. Auflage 2020):
• eindeutige Wirklichkeiten in ihren Begrenzungen zu akzeptieren.
• wenn wir Mehrdeutigkeiten erkennen, thematisieren wir sie auf positive Weise.
• indem wir Möglichkeiten beobachten, machen wir mehr davon.
* Weick, Karl (1995). Der Prozeß des Organisierens. Suhrkamp. Frankfurt am Main, S. 9.