Zur Webseite des Carl-Auer-Verlages: „Die Ermöglichungsprofession. 69 LEUCHTFEUER FÜR SYSTEMISCHES ARBEITEN“ (Wirth/Kleve 2019)
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Welchen Herausforderungen stellt sich heute die Soziale Arbeit (in Deutschland)?
Sicherlich ist es nicht zu viel gesagt, dass das 21. Jahrhundert ein sozialpädagogisches beziehungsweise sozialarbeiterisches Jahrhundert wird. Die Expansion der Sozialen Arbeit verweist auf den lange beobachtbaren und jetzt sich beschleunigenden gesamtgesellschaftlichen Wandel bzw. Übergang von der Industrie zur Dienstleistungsgesellschaft (Daniel Bell). Wachstumstreiber sind dabei verschiedene Bereiche. Sicherlich am besten bemerkbar ist die Immigration von Einzelpersonen und ihren Familien, etwa aus Syrien, Afghanistan usw. Es kommt außerdem zu einem massiven Ausbau der Kinder- und Jugendhilfe in drei verschiedenen Bereichen, einerseits im Bereich der Erziehungshilfen, der Ganztagsbetreuung in Schulen und natürlich der Betreuung in Kindertagesstätten. Nicht zu vergessen sind die Konsequenzen und Wirkungen aus der Umsetzung der internationalen Konventionen für Rechte von Behinderung betroffenen Personen. Vom demographischen Wandel her wird ebenfalls die Soziale Arbeit mitgerissen, der bestenfalls zu einer erhöhten Nachfrage von ambulanter sozialpädagogischer bzw. psychosozialer Unterstützung von Menschen 60+ und in stationären Einrichtungen der Altenhilfe führen wird.
Parallel zu diesem Wachstum kommt es nun zu einem steigenden Rationalisierungsdruck aufgrund der Kostenexplosion. Dieser Rationalisierungsdruck zeigt sich in einer hohen Arbeitsbelastung der sozialpädagogischen Fachkräfte, der von der Verwaltung überformten sozialpädagogischen Arbeit oder dem Einsatz von niedrigqualifizierten oder nur auf Honorarbasis mitarbeitenden Personen. In Jugendämtern hat sich m.E. das Arbeitsprofil so verändert, dass nur noch 10-20 % der Zeit für kommunikative soziale Arbeit mit den Adressaten und 70-90 % für Verwaltung, Administration und Dokumentation verwendet wird. Ich kenne Jugendämter, in denen sich die Sozialpädagogen im Studienberuf nicht mehr als Sozialpädagogen bezeichnen, sondern als Verwaltungskräfte und dies im Brustton der Überzeugung der Richtigkeit dieser Entwicklung. Hiermit können allerdings zugleich De-Professionalisierungsvorgänge verbunden sein.
In dem Zusammenhang lässt sich auch über neue Handlungsfelder wie schulische Inklusion bzw. schulbezogene Soziale Arbeit oder Soziale Arbeit in Flüchtlingsunterkünften sprechen, wobei letztere etwa einen massiven Bedarf an interkulturell passenden Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit haben.
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Was brauchen Sozialarbeiter/innen und Sozialpädagog/innen, um einen guten Job machen zu können?
Eine sozialpädagogische bzw. sozialarbeiterische Fachkraft kann zumeist nur optimal wirksam werden, wenn sie kontinuierlich in einem gemeinschaftlichen Handlungszusammenhang bzw. Teamzusammenhang aufgehoben ist. Die Suche nach dem für einen selbst passenden Team kann verkürzt oder erfolgreicher werden, wenn sich wechselseitig über die Erwartungen und Haltungen des beruflichen Handelns und der Anforderungen auf dem Arbeitsplatz ausgetauscht wird. Hier sind Leitungskräfte und Supervisor/innen Schlüsselpersonen, insofern kann das Buch hier eine wertvolle Lektüre bieten für die Weiterentwicklung des Teams.
Soziale Fachkräfte brauchen schlicht und ergreifend Zeit, um Entwicklung anzubahnen, Konflikte zu lösen oder Krisen zu gestalten. In der Praxis wird gehandelt, muss gehandelt werden, jedoch gerade zu Beginn und in Schlüsselsituationen ist es unabdingbar gemeinsam Einschätzungen und Vorgehensweisen abzustimmen und im Nachhinein zu bewerten, etwa auf ungenutzte oder blockierte Möglichkeiten.
Diese Abstimmung erfolgt bestenfalls im Rahmen der Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit, insbesondere eben der systemischen Theorie und Methodik, die das Buch nutzt und mit Bezug auf die Modelle der benachbarten Professionen und Disziplinen, ohne diese unreflektiert in einen Topf zu tun. Damit ist dreierlei gesagt, dass Soziale Arbeit Zeit braucht, ein gut aufgestelltes Team und ein sowohl breites wie auch differenziertes Theorie- und Methoden-Wissen.
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Muss etwas anders werden? Falls ja, was könnte das sein?
Sicherlich hat sich Soziale Arbeit zu wandeln und weiterzuentwickeln, das kann auch gar nicht anders sein, weil sich die funktional differenzierte Gesellschaft selbst in einer zunehmenden Eigendynamik bewegt. Wir könnten mithilfe der Ebenen von Interaktion, Organisation und ggfs. Teilsystems „Soziale Arbeit“ über Veränderung und notwendigen organisationalen Wandel sprechen. Auf allen Ebenen scheint es mir noch an Wissenschaftlichkeit, Nüchternheit und Professionalität zu mangeln. Hier gibt es noch relativ viel Luft nach oben, insbesondere wenn die Arbeitsbelastung der Sozialen Arbeit weiter anhält, sind die Grundlagen der Sozialen Arbeit bedroht, die da lauten auf die eigenen Wertehorizonte zu achten, mit Wertschätzung und Sensibilität auf die Adressat/innen zuzugehen und mit ihnen in der dialogischer Weise ins Gespräch zu kommen. Hierbei geht es nicht um wechselseitige Bestätigung der blinden Flecke, sondern um Entwicklung, Wachstum und interessante neue Richtungsziele. Hierbei will das Buch einen Beitrag leisten.
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Liefert ihr Buch dazu hilfreiche Aspekte?
Für die drei Bereiche Theorie, Methoden und Haltung bieten wir verschiedene Werkzeuge an. Im Bereich der Theorie versuchen wir eine Reihe von Überlegungen zu bieten, die das Querdenken erleichtern. Im Bereich der Methoden geben wir schlichte und praktisch wirksame Empfehlungen, die bedenkenswert sein können, etwa um sich auf bestimmte Gespräche und Situationen vorzubereiten. Ohne Theorien können wir unseren Standort nicht bestimmen und begründen. Ohne Methoden können wir unseren Standort nicht wechseln. Ohne Haltung können wir unsere Position nicht halten, wenn Sturm aufkommt. Gebraucht wird m. E. eine Haltung, die Nichtwissen, Ambivalenzen und Unbestimmtheiten nicht als Problem, sondern als Aufgaben, Chancen und neue Möglichkeiten auffassen und nutzen.
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Welchen Einfluss hat das Buch auf die tägliche Arbeit?
Jede professionelle Fachkraft hat sicherlich ihre persönlich passende Herangehensweise, gleichwohl eingerahmt von bestimmten Handlungsbegrenzungen. Ich selbst nutze praktische wie theoretische Literatur zumeist vor oder nach Schlüsselsituationen.
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Was hat man gewonnen, wenn man es gelesen hat?
Ich würde zunächst einmal die Frage darauf lenken, was jemand verpasst, wenn er das Buch nicht liest. In unserem Buch brechen Heiko Kleve und ich mit einigen klassisch gewordenen Vorannahmen der Sozialen Arbeit, die manchmal traditionell von Generation zu Generation weitergegeben werden, ohne sie immer wieder aufs Neue zu reflektieren. Wir sollten uns bestenfalls im Klaren werden darüber, dass Begriffe Kinder ihrer Zeit sind und demzufolge die Methoden und Theorietheorie in einer lebenslangen Querschnittsaufgabe aktualisiert werden müssen.
Ich glaube persönlich, dass jemand, der das Buch liest, wertvolle Anregungen gewinnt zum postmodern-systemischen Querdenken, zum Beobachten von bisher unbeobachteten Praktiken und Verfahren sowie auch in der Einübung einer sehr aufmerksamen, wertschätzenden Perspektive im Hinblick auf die Adressaten wie auch auf die Kolleginnen.
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Woran würde man erkennen, dass ein/e Sozialarbeiter/in bzw. Sozialpädagog/in das Buch gelesen hat?
Die Wirkung des Buches dürfte folgende sein: es wirkt einerseits wie Sauerstoff, der durch die Leitungen gepumpt wird, um Kalk abzulösen, andererseits wie eine Entschleunigung im permanenten Handlungsdruck. Eine Person, die oder der das Buch gelesen hat, erkennen wir an einer sich öffnenden, neugierigen Gestik und Mimik, einer dialogischen Erweiterung des Blickfeldes und schließlich daran, dass sie zweifelnd Fragen stellt wie: „Nur mal angenommen, dass ließe sich auch anders deuten oder machen, was hieße das für unsere Gespräche?“ oder mit nachdenklichem Gesicht in die Runde schaut und sagt: „Ich stelle mir gerade die Frage, inwiefern hier etwas passender gestaltet werden kann als bisher!“
Es antwortete Dr. Jan V. Wirth