Die meisten Modelle vom Menschen, seiner Lebensführung und seiner Art und Weise zu handeln, gehen vom sogenannten Normalitätsmodell aus. In einer normalen Situation, das meint eine Situation, mit der wir vertraut sind und wissen wie zu handeln ist, kennen wir unsere Möglichkeiten, darauf in entsprechender Weise zu reagieren und uns zu verhalten (Bsp. homo oeconomicus, homo sociologicus).
Dieses Modell ist jedoch für die Situationen unbrauchbar, in denen wir uns als Einzelne ohnmächtig fühlen und uns unserer Möglichkeiten beraubt sehen. Dies ist der entscheidende Unterschied. Die Wissenschaft müsste also vielmehr Situationen und Handelnde in den Blick nehmen, die an einem subjektiv aussichtslosen Punkt stehen und sich nicht anders zu helfen wissen (ja sogar die übermenschliche „Akzeptanz der Hilflosigkeit“ der Fundamentalisten).
Selbstverständlich ist das eine ziemlich diffizile Situation. Die Wissenschaft ist bestrebt, allgemeingültige Modelle zu produzieren. Allerdings ist das in diesem Fall nicht möglich. Der jeweilige Zugang zu Ressourcen kann aus subjektiver Hinsicht ganz unterschiedlich erscheinen. Jedenfalls gilt, dass die herkömmlichen Menschenbilder des rational handelnden Menschen bzw. Akteurs im Falle einer Bedrohung seiner Identität und Existenz nicht mehr plausibel erscheinen.
Wir hätten also zu unterscheiden zwischen normalen Situationen der Lebensführung, in denen wir den üblicherweise bekannten Zugriff auf Ressourcen haben und krisenhaften Situationen, in denen uns die vertrauten Geländer der Lebensführung verloren gehen.
An diese Unterscheidung anschließend ist zu fragen, was das Kennzeichen einer Krise ist. Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, auch wenn das sprachlich unglücklich formuliert ist, dass die herkömmlichen Verhaltensweisen und Handlungsformen nicht hinreichend sind, um sie zu bewältigen. In einer Krise versagen insofern alle herkömmlichen Modelle, sonst wäre das keine Krise, und meiner Meinung nach wird das noch zu wenig berücksichtigt in der sozialwissenschaftlichen Forschung.
Konsens könnte jedoch darin bestehen, dass aufgrund der Bedrohung eine Fokussierung auf das zu bearbeitende Problem stattfindet. Eine Fokussierung bedeutet jedoch zugleich, dass eine ganze Reihe von verschiedenen Möglichkeiten zugleich ausgeblendet werden, sonst wäre es wiederum keine „Fokussierung“.
Diese Fokussierung dürfte an und für sich zum Ziel haben, unter Zeitknappheit bestimmte Kausalitäten zu postulieren und diese Zusammenhänge von Ursache und Wirkung zum Maßstab weiterer Überlegungen zu machen. Hierbei wird freilich das Problem der Komplexität unterschlagen. Die Bearbeitung von Komplexität ist gerade dann zum Scheitern verurteilt, wenn sie grundsätzliche Überlegungen und Reflexionen zur „Evidenz von Wirklichkeit und Möglichkeit“ auslässt.
Eine solche Neuinterpretation von Wirklichkeit, weg von der Problemorientierung hin zur Ressourcenorientierung, ist ein Ziel psychosozialer Beratung. Ein anderes Ziel, die Neuinterpretation von Möglichkeiten, wird zu einer Erweiterung oder Intensivierung von bereits vorhandenen Möglichkeiten anleiten.
Einfache Modelle des Menschen als einem rational handelnden Akteur werden dieser Situation nicht gerecht. Sie würden bestenfalls und primär darauf hinauslaufen, eine kognitive Neubewertung der Situation herbeizuführen. Wenn aber genau nicht diese kognitive, sondern die emotionale Bewertung der Situation das Problem ist, laufen diese Bemühungen ins Leere.
Wenn diese Argumentation richtig ist, haben wir uns zu fragen, und das gilt immer nur für den Einzelfall, welche Möglichkeiten tatsächlich selektierbar sind. Luhmann hatte zurecht bemerkt, dass nicht alle Möglichkeiten relevant sind, sondern nur diese Möglichkeiten, die selektierbar sind.
Eine psychosoziale Beratung und Therapie hätte demzufolge den Anspruch, wirklich selektierbare Möglichkeiten zum Gegenstand der Bemühungen zu machen und inständig darauf zu hoffen oder dahinzuarbeiten, dass die Adressatinnen und Klientinnen von diesen Möglichkeiten Gebrauch machen - unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen krisenhaften psychosozialen Situation.
Generell allzu optimistische Menschenbilder werden an dieser Stelle versagen, weil sie nicht darauf angelegt sind, den Menschen in seiner existenziellen Krise zu beschreiben, sondern - typisch heroisch-modern - im Bewusstsein seiner Möglichkeiten und Ressourcen. Dies ist jedoch für die Krise augenscheinlich nicht übernehmbar.