Das Niebuhr (1943) zugeschriebene Gelassenheitsgebet (vgl. Sifton 2001) bringt in erstaunlicher Klarheit drei Grundfähigkeiten der Lebensführung zum Ausdruck:
„Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Gott bzw. die Religion bilden in der heutigen Gesellschaft und ihrer Lebensführung nur Anhaltspunkte unter anderen. Vielmehr wird den freigesetzten Subjekten und Individuen (Beck) in der funktional differenzierten Gesellschaft (Luhmann) die Aufgabe angetragen, ihr Leben zunehmend nach eigenen Gesichtspunkten zu ordnen und entsprechende Fähigkeiten reflexiv auszubilden.
Eine daraufhin bezogene Reformulierung des Gelassenheitsgebetes würde wie folgt aussehen:
"Selbst gebe ich mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“
Die Rede von Dingen bleibt allerdings missverständlich. Systemtheoretisch kann es hier nur um sogenannte Tatsachen gehen, die in der und durch die Kommunikation erzeugt werden. Dies würde das Gelassenheitsgebet wie folgt verändern:
"Mein SELBST gebe mir die Gelassenheit, Kommunikation hinzunehmen, die ich aktuell nicht ändern kann, den Mut, Kommunikation zu verändern, an der ich mich beteilige, und die Weisheit, diese Formen der Kommunikation zu unterscheiden."
Während es in psychischen Systemen um Gedanken, in sozialen Systemen um Kommunikation geht, so sind beide Systemarten auf das Medium Sinn verwiesen. Sinn bietet nicht nur ein Medium, sondern auch eine Ambivalenz und zwar die Ambivalenz von Wirklichkeit und Möglichkeit. Ambivalenz lässt sich sowohl psychologisch als auch soziologisch beschreiben. Das wesentliche Kennzeichen von Ambivalenz könnte Mehrdeutigkeit sein. Beziehen wir einen solchen Selbst-Appell wie oben das Gelassenheitsgebet nunmehr auf den Umgang mit Mehrdeutigkeit, lässt sich folgender Wahlspruch einer postmodernen Gemütshaltung im Anschluss an Heiko Kleve formulieren:
"SELBST, gib mir die Fähigkeit und den Witz, Mehrdeutigkeit zu tolerieren und zu genießen, wenn sie angemessen ist, die Klarheit des Verstandes und die Festigkeit der Haltung, eindeutig zu sein, wenn sie es nicht ist, und die Weisheit, zu wissen, welche Zeit es ist." (frei nach Donald Levine).
* Sifton, Elisabeth (2001): Das Gelassenheits-Gebet. München: Hanser.